von Regine Reichwein
Die meisten Menschen sind sehr bedürftig und sehnen sich unter anderem besonders nach Anerkennung und Wertschätzung, nach Bedeutung und Wirkung, nach Zugehörigkeit und Liebe. Es sind insbesondere diese eigenen Wünsche und die Hoffnung auf deren mögliche Befriedigung, durch die wir anfällig werden, das zu erfüllen, was andere von uns wollen.
Diese Wünsche nach Bedürfnisbefriedigung – sowohl der eigenen Wünsche als auch die der anderen – können einerseits die Balance zwischen Geben und Nehmen erheblich stören, sie ermöglichen es jedoch auch, die Balance zwischen Geben und Nehmen für sich selbst wieder herzustellen.
Wir wissen z. B., dass die einfache Aufforderung an andere, den Müll herunterzubringen, das Zimmer aufzuräumen, die Wäsche aufzuhängen, die Schularbeiten zu machen und dergleichen, eher auf Widerstand stoßen. Meistens wollen wir selbst auch nicht das tun, was wir tun sollen, weil andere das wollen.
Stattdessen fühlen wir uns leicht als Opfer der willkürlichen Erwartungen von andern und entwickeln dementsprechend sehr schnell eine Verweigerungshaltung.
Dabei übersehen wir dann leider auch, dass es zu einem angenehmen und ausbalancierten Zusammenleben gehört, dass jeder etwas zum Funktionieren der jeweiligen sozialen Gemeinschaft beiträgt. Sklaverei ist zwar noch nicht vollständig abgeschafft, wird aber zumindest überwiegend kritisiert und abgelehnt.
Das aber bedeutet, dass man nicht einigen wenigen die Erledigung der notwenigen Arbeit übergeben kann, sondern dass sich alle Nutznießenden an den Aufgaben einer Gemeinschaft, sei es eine Familie, ein Team, eine Schulklasse, eine Hausgemeinschaft oder ähnliches, je nach ihren jeweiligen Möglichkeiten beteiligen.
Aber das macht nicht unbedingt Spaß. Es erfordert in vielen Fällen eine Überwindung und ein zeitweiliges Zurückstellen der eigenen Interessen.
Deswegen möchte ich auf eine Version der Heldin oder des Helden und des Begriffs der „Heldentat“ zurückgreifen, die heute nicht mehr sehr üblich ist. Der Begriff der „Heldin“ oder des „Helden“ wird von Carol S. Pearson in ihrem Buch „Der Held in uns“ auf eine sehr differenzierte Weise zusammen mit vielen Beispielen und zugehörigen psychischen Prozessen vorgestellt (Knaur 1993).
Hier will ich mich hier allerdings beschränken und – sehr vereinfacht – als „Heldin“ oder „Held“ einen Menschen verstehen, der etwas für andere Menschen tut, was ihr oder ihm schwer fällt, Überwindung kostet und dem Wohl, der Sicherheit, dem Leben oder auch dem Überleben der anderen dient.
In diesem Sinne sind Heldentaten einer Person Zeichen sowohl der Selbstüberwindung als auch des Verzichts auf die Ausschließlichkeit eigener Interessen. Mit einer Heldentat erwartet eine Person nicht eine Verbesserung ihrer eigenen Situation, sondern möchte – auch wenn es mit persönlichen Anstrengungen und Kosten verbunden ist – etwas zu der Verbesserung der Situation von anderen beitragen. Insofern sind „Heldentaten“ gut geeignet, mit Erwartungen von anderen auf eine konstruktive Weise umzugehen. Siehe dazu auch: BLOG-ARTIKEL 3: ERWARTUNGEN.
Dabei gibt es zwei Möglichkeiten:
1. Die Erfüllung der Erwartungen von anderen als „persönliche Heldentat“ verstehen
Wenn ich mir – auch wenn ich selbst unter Zeitdruck stehe – einen Moment Zeit nehme, um einem anderen Menschen behilflich zu sein, den Müll wegzubringen, etwas zu besorgen, den Einkauf oder den Koffer zu tragen, mir die Sorgen und Probleme einer anderen Person anzuhören und nach Lösungen zu suchen, dann ist das – wenn man noch einmal darüber nachdenkt – keine Selbstverständlichkeit, auch wenn es immer wieder gesagt wird.
Viele Menschen erwarten jedoch – manchmal sogar ohne etwas zu sagen – solche kleineren oder größeren Hilfeleistungen und Unterstützungen und denken, es sei eigentlich selbstverständlich, dass eine andere Person einen Umweg macht oder einen zum Flughafen fährt, einem Bücher, das Auto oder Geld leiht, einen zum Arzt begleitet und sich Zeit für alles Mögliche andere nimmt. Und sie werden ärgerlich, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Und das ist oft einseitig, denn nicht immer halten sie es für selbstverständlich, ihrerseits anderen solche Gefälligkeiten zu erweisen.
Es ist allerdings im zwischenmenschlichen Umgang sehr sinnvoll, kein Lächeln, keine Freundlichkeit, kein Entgegenkommen, aber auch keine unangenehmen oder unangemessenen Verhaltensweisen für selbstverständlich zu halten. Jede Handlung einer anderen Person ist ein Selbstausdruck dieser Person. Und dieser Selbstausdruck dient meist entweder den eigenen ganz persönlichen Zielen oder den Zielen der sozialen Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt und von deren Wohlergehen man ebenfalls – zum Beispiel über den Umweg der Heldentat – profitiert.
Nur solange man Verhaltensweisen von anderen für selbstverständlich hält, oder selbst die Erwartungen von anderen „selbstverständlich“ erfüllt, tauchen die „Heldentaten“ des Alltags im Bewusstsein der Beteiligten nicht auf und können dann auch nicht als Besonderheit wertgeschätzt werden.
Und das finde ich wirklich schade.
In diesem Sinne ist es sehr sinnvoll, die Erfüllungen von eigenen Wünschen durch andere – gerade wenn man weiß, dass diese Wunscherfüllungen den anderen schwer fallen – als deren „persönliche Heldentat“ zu betrachten.
Denn wenn ich von einer anderen Person erwarte, dass diese mir oder der sozialen Gemeinschaft zuliebe etwas tut oder auf etwas verzichtet, sich mir oder dem gemeinsamen sozialen Umfeld zuliebe ungewohnte und besondere Mühe geben soll oder ähnliches, dann erwarte ich tatsächlich eine „Heldentat“.
Nur ist das meist so nicht üblich. Sowie die andere Person mit einem leichten Zögern, einer kleinen Abwehr und nicht mit „Begeisterung“ auf einen Wunsch reagiert, haben viele Menschen die Tendenz, ihre Erwartung sofort zurückzuziehen und deutlich zu machen, dass sie – wenn die andere Person die Erwartung nicht gern erfüllt – sich lieber selber darum kümmern würden. Wir wollen meist keine Heldentaten von anderen Menschen entgegennehmen und die Gründe dafür sind vielfältig.
Wenn wir in unserem Leben nicht sehr verwöhnt wurden – um es vorsichtig auszudrücken –, dann kann uns – wenn eine andere Person unseretwegen eine Heldentat vollbringt – unser langjähriges Defizit an Zuwendungen schmerzhaft bewusst werden.
Wir können aber auch Angst vor einer zukünftigen Verpflichtung haben, die wir mit der Annahme der Heldentat eingehen. Es kann auch sein, dass es in diesem Zusammenhang Gebote oder Verbote gibt oder dass wir mit dem Gefühl von Dankbarkeit Schwierigkeiten haben.
Das alles kann dazu führen, dass wir es vermeiden, andere Menschen zu Heldentaten aufzufordern oder selber welche zu vollbringen.
Und das finde ich ebenfalls wirklich schade.
Sicherlich ist es sinnvoller anzuerkennen, wenn Menschen sich überwinden, um Wünsche zu erfüllen, die man an sie hat. Menschen sind autonome Wesen, und wenn sie sich zu etwas entschließen, tun sie dieses, weil sie es wollen, aus welchen Gründen auch immer. Sie haben immer die Verantwortung für ihr eigenes Handeln. Daher ist die folgende innere Haltung sehr zu empfehlen:
2. Wunscherfüllungen durch andere Menschen als deren Heldentaten anerkennen
Wenn uns bewusst wird, dass ein Mensch Heldentaten vollbringt, wenn er sich vom Computer loslöst, wenn er auf seine Sportstunde verzichtet oder gegen Widerstände von anderen früher von der Arbeit nachhause kommt usw., um Zeit mit seinen Lieben zu verbringen, dann ist es wichtig, dieses nicht für selbstverständlich zu halten, sondern dankbar entgegenzunehmen und die eigenen Gefühle von Dankbarkeit auch deutlich auszusprechen.
Die Gespräche miteinander verlaufen dann sicher angenehmer und es gibt weniger Streit.
In dem Maße, in dem wir nichts mehr für selbstverständlich halten, nehmen die angenehmen Überraschungen zu.
Wenn wir das Aufräumen eines Zimmers, das Wegbringen der Pfandflaschen, das Anbringen eines Regals, das Ausführen des Hundes bei Regen, den Verzicht auf die Lieblingssendung im Fernsehen zugunsten einer anderen Aktivität und so weiter als Heldentaten ansehen und auch so behandeln und uns dementsprechend als dankbar erweisen, dann können die Tage voller Geschenke sein. Und das finde ich richtig gut.
©Autorenrechte Regine Reichwein
Kommentar schreiben
Irmgard Bloemer (Samstag, 13 Dezember 2014 23:01)
Bei diesem Denkansatz können sogar ungeliebte Taten Spaß machen oder fallen zumindest nicht mehr so schwer! Wer wäre nicht gerne Heldin/Held?
Jani Whitsett (Freitag, 03 Februar 2017 21:45)
I am really thankful to the owner of this web page who has shared this wonderful post at at this place.
Martina Plainpenn (Donnerstag, 09 November 2023 15:49)
Es ist halt, wie so oft, eine Frage der Perspektive. Dieser Artikel ist gut geschrieben und sehr hilfeich. Wir sollten häufiger demütig und ankbar sein, für das, was uns geschieht.
Mein Mann hatte heuet fürmich gekocht, weil ich in der Mittagspause nicht so viel Zeit habe. Ers selber musste zur Arbeit und hat wegen des Kochens auf eine Sache verzichtet, die er eigentlich hätte machen wollen (oder müssen). Ich war ihm sehr dankbar.
Es kommt aber dieser Aspekt hinzu: Was ist, wenn das Gegenüber den Dank nicht annehmen kann? Wenn er/sie diese Geste wiederrum nicht annehmen kann?
Ja, Menschsein ist schon nicht ganz einfach, insbesondere, wenn zwei "geschundene" Seelen aufeinander treffen ;-)
Ich bin aber sehr erfreut, über solche Texte und Denkanstöße, wie von Frau Reichwein.
Vielen Dank für die Blogartikel, Literaturhinweise, Angebote.