von Regine Reichwein
Wenn ich an die Nachrichten der letzten Zeit denke, wird mir intensiv bewusst, wie viel Grund ich und alle die Menschen in meiner Umgebung habe, dankbar zu sein.
Ich hungere nicht und habe genug zu trinken, ich habe ein Dach über den Kopf und bin nicht durch tödliche Aggressionen anderer Menschen, durch Schüsse und Bomben, durch Krankheit, Verrat und Folter gefährdet, wie viele Hunderttausende von Menschen in großen Teilen der Erde.
Weitere Hunderttausende sind auf der Flucht vor den gewalttätigen und grausamen Taten anderer Menschen, die sich organisiert und mit Waffengewalt an die Verfolgung und Ausrottung aller derjenigen machen, die in ihren Augen kein Recht auf Leben haben.
Und die vielen Hunderttausende, die erst einmal nur ihr nacktes Leben haben retten können, leben oft anschließend in Flüchtlingslagern, auf engstem Raum, in Zelten oder unter freiem Himmel und ohne langfristig ausreichende Versorgung.
Sie sind mutig, weil sie trotz schwerer Schicksalsschläge nicht aufgegeben haben, weil sie sich – zumindest meistens – in gefährlichen Situationen gegenseitig geschützt und unterstützt haben.
Diese Art von Mut ist außergewöhnlich und jeder Tag ihres weiteren Überlebens ist angefüllt von Heldentaten.
Ich weiß nicht, ob ich so viel Mut aufbrächte oder ob ich nicht doch verzweifeln und aufgeben würde.
Alle diese Menschen brauchen unsere Unterstützung. Ich denke, wir sind alle aufgefordert, uns zu engagieren und so viel Hilfe zu mobilisieren, wie uns jeweils möglich ist.
Die ständig wiederkehrende Frage ist, wie kann es immer wieder in allen Teilen der Welt dazu kommen, dass Menschen zu all dieser Gewalt, Grausamkeit und Zerstörungswut nicht nur fähig sind, sondern auch entsprechend handeln.
Seit Jahrhunderten haben Menschen versucht, Antworten auf diese Frage zu finden und viele Menschen sind weiter auf der Suche. Möglicherweise gibt es für jeden Menschen eine andere Antwort und wir werden auch nie wissen, ob es jeweils eine angemessene Antwort ist.
Ich denke allerdings, dass es gesellschaftliche Dynamiken gibt, die Gefühle von Verachtung und Hass und gewalttätige, grausame Verhaltensweisen begünstigen.
Und es gibt Menschen, die mit der Klarheit ihres Denkens, ihrer sozialen Verantwortung und ihrem Engagement versuchen, solche Dynamiken aufzuspüren, sie zu beschreiben und Lösungsmöglichkeit für die ansonsten zerstörerischen Dynamiken zu entwickeln.
So auch Raif Badawi aus Saudi-Arabien, über dessen Schicksal ich neulich von verschiedenen Seiten gehört habe. In diesem Zusammenhang wurde im Internet in der Huffington Post vom 3. 10. 2014 ein neues Gesetz zitiert, welches in Saudi-Arabien seit 2014 gelten soll:
„Artikel 4 des neuen Gesetzes legt fest, dass jeder ein Verbrechen begeht, der „(Terroristischen) Organisationen, Gruppierungen, (Gedanken-) Strömungen, Verbänden oder Parteien hilft, eine Zugehörigkeit zu einer solchen demonstriert, damit sympathisiert, sie fördert oder an Treffen einer solchen teilnimmt - sei es innerhalb oder außerhalb des Königreichs. Dies schließt auch die Verbreitung von Inhalten, Slogans, Symbolen, Botschaften der genannten Gruppierungen über Audiovisuelle-, Print- und sämtliche soziale Medien ein.“
Im Zusammenhang mit diesem Gesetz ist Raif Badawi, der am 17. 6. 2012 verhaftet wurde, aufgrund des obigen 2014 in Kraft getretenen Gesetzes in zweiter Instanz zu 10 Jahren Haft, 1000 Peitschenhieben und 194 000 € Strafe verurteilt worden.
Sein Vergehen war, dass er in den sozialen Medien „Muslime, Christen, Juden und Atheisten“ (siehe Wikipedia) als gleichwertig bezeichnet hatte. Das wurde vom Gericht als „Beleidigung des Islam“ gewertet und entsprechend geahndet.
Ich kann es kaum fassen, dass Menschen einen anderen Menschen auf so brutale Weise dafür bestrafen, dass er – nur mit Worten – für die Gleichwertigkeit von Menschen eintritt, die unterschiedliche religiöse Vorstellungen vertreten.
Raif Badawi ist nicht der einzige, der sich trotz tödlicher Bedrohung für die Menschenrechte seiner Mitmenschen und die Entwicklung einer menschenwürdigen Gesellschaft einsetzt.
Es gibt viele Muslime, die sich mutig mit ihren teilweise noch sehr traditionellen Familien auseinandersetzen, die aufgrund ihrer Meinungsäußerungen Morddrohungen in Kauf nehmen müssen und die sich in die historisch auffindbaren Strukturen gesellschaftlicher Unterdrückungen eingearbeitet haben, um nach Lösungen für die Unterdrückungssysteme der Gegenwart zu suchen.
Zur Zeit – denke ich – ist es besonders wichtig, sich sowohl mit den Bedingungen auseinanderzusetzen, in denen Flüchtlinge in den verschiedenen Lagern leben, als auch mit den Entscheidungen der Bundesrepublik in Bezug auf die Aufnahme und den Umgang mit Asylsuchenden hier und den vielen Flüchtlingen in anderen Ländern.
Ich habe auch keine Lösungen, aber ich finde es absolut erschreckend, dass selbst die internationalen Institutionen am Ende ihrer – angeblich auch ihrer finanziellen – Möglichkeiten ankommen und dass dringend etwas geschehen muss.
Inzwischen sind viele neue Meldungen dazu gekommen, die ich hier nicht berücksichtigt habe.
Ich denke und hoffe, dass jede einzelne Person durch Gespräche mit anderen Menschen Mittel und Wege sucht und vielleicht auch findet, auf die eigene persönliche Weise zu helfen.
©Autorenrechte Regine Reichwein