Regine Reichwein
Anmerkung: Dieser Artikel ist etwas länger und ausführlicher geworden. Die 9 Abschnitte lassen sich besser lesen, wenn Sie z.B. mit den Tasten ↑↓ oder ↖ zum Seitenanfang navigieren. Zusätzlich können Sie hier unten auf die numerierten Abschnitt-Links klicken.
Immer wieder wird über notwendige Veränderungen in der Erziehung und Ausbildung unserer Kinder diskutiert.
Namhafte Hirnforscher, politisch Engagierte, Elternvertreter, Psychotherapeuten und viele andere Mitglieder unserer Gesellschaft überlegen die verschiedensten Möglichkeiten, entwickeln neue Pläne und neue Methoden, berechnen die Kosten und versuchen, die besten Lösungen für eine angemessene Erziehung und Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zu finden.
Allen möchte ich nur die besten Absichten unterstellen. Und trotzdem, ich bin unzufrieden und oft auch wütend, denn mir geht die Entwicklung nicht schnell genug, die Vorschläge sind mir nicht radikal genug und die an der Umsetzung der Veränderungsprozesse beteiligten Menschen nicht bewusst genug in Bezug auf das, was sie wollen und was sie tun.
Und auch wenn mir die Grenzen in Bezug auf mögliche Einflüsse auf diese Prozesse bewusst sind, will ich es trotzdem versuchen, meine eigenen Vorstellungen und Wünsche deutlich zu machen.
Alle meine kritischen Einwände und die resultierenden Vorschläge basieren darauf, dass Menschen – wie alle Lebewesen – selbstorganisierende Systeme sind, für die grundlegend
andere Prinzipien gelten als für lineare oder mechanische Systeme. Darauf werde ich später noch genauer eingehen.
Wenn ich sage, „Wir opfern unsere Kinder“, dann meine ich, dass wir sie unseren kulturellen Überzeugungen opfern, deren Aufrechterhaltung uns wichtiger zu sein scheint, als die körperliche, emotionale und mentale Verfassung und die soziale Entwicklung unserer Kinder.
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Unsere kulturellen Überzeugungen
I.
Das fängt bereits damit an, dass wir eine jahrhundertelange Tradition darin haben zu glauben, wir dürften Menschen, die schwächer, ärmer, kleiner oder einfach nur anders sind als wir, kontrollieren und beherrschen. Den meisten Menschen scheint es selbstverständlich zu sein, dass Kinder gehorchen müssen. Sie glauben, dass die Erwachsenen ein Recht darauf haben zu bestimmen, was Kinder tun und was sie lassen sollen.
Die Haltung „Recht haben wollen und von anderen Gehorsam verlangen“ ist – neben vielen anderen Faktoren – kontraproduktiv, wie sich aus der zunehmenden Anzahl sogenannter verhaltensauffälliger Kinder ablesen lässt.
Kinder wollen genau so autonom sein wie Erwachsene und andere Lebewesen auch und empfinden entsprechende Einschränkungen als schmerzhaft. Wie man aus den politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erkennen kann, ist Menschen vielen Fällen ihre Autonomie wichtiger als das eigene Überleben.
Es ist daher von entscheidender Bedeutung, bei jeder Bitte an ein Kind gleichzeitig deutlich zu machen, dass es die Entscheidung des Kindes ist, ob es die Bitte erfüllt oder nicht.
Ebenso wichtig ist es, dem Kind zu vermitteln, dass eine solche Entscheidung immer auch Konsequenzen hat.
Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Kind die Bitte eines Erwachsenen erfüllt. Daher ist ein ausdrücklicher Dank von Seiten des Erwachsenen angemessen.
Da Kinder in einigen Fällen die möglichen Konsequenzen einer Handlung noch nicht erfassen können, ist es manchmal notwendig, Kinder ohne Berücksichtigung ihrer eigenen Entscheidung vor Gefahr zu schützen.
Wenn solche Übergriffe in Bezug auf die Autonomie eines Kindes notwendig erscheinen, ist es wichtig, sein Bedauern in Bezug auf solche Grenzüberschreitung zu äußern und bewusst dem Kind gegenüber die eigene Verantwortung für die fehlende Berücksichtigung der Wünsche des Kindes zu äußern.
Häufig sahen die Botschaften der Erwachsenen in den verschiedensten Situationen – hier beliebig zusammengestellt – folgendermaßen aus:
Ich denke, schon aus den Formulierungen wird deutlich, dass man Gehorsam erwartet. Das ist auch keineswegs ein Problem. Wir alle wollen, dass das, was wir wollen, auch erfüllt wird. Sonst brauchten wir es gar nicht erst zu wollen.
Das Problem fängt erst an, wenn sich das jeweilige Gegenüber weigert, das zu tun, was wir wollen. Und leider haben wir die Erwartung, dass das Gegenüber zu gehorchen hat, meist so verinnerlicht, dass wir nicht nur wütend werden, sondern diese Wut auch am anderen ausagieren.
Das Gefühl von Wut ist allerdings nicht das Problem. Es informiert uns nur darüber, dass es gerade keine Wunscherfüllung gibt.
Das Problem liegt darin, dass wir dieses nicht akzeptieren wollen, sondern glauben, wir hätten das Recht, mit denjenigen, die uns die Erfüllung unserer Wünsche verweigern, aggressiv umzugehen.
Aber jedes Lebewesen hat zunächst einmal das Recht, so zu leben und im Einzelfall so zu handeln, wie es das möchte. Es ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, anderen dieses Recht zu verweigern, denn auch wir wollen dieses Recht für uns in Anspruch nehmen.
Die Beobachtung, dass wir Tag für Tag anderen Menschen – insbesondere Kindern – dieses Recht verweigern, sollte uns zu denken geben.
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II.
Wir glauben – ebenfalls seit sehr langer Zeit – daran, dass wir alle in ein und derselben Wirklichkeit leben, die wir sukzessive immer besser erkennen können.
Die irrige Annahme „Meine Wirklichkeit ist die einzige und die einzig richtige“ ermöglicht uns, „richtige“ Erkenntnisse von „falschen“ Behauptungen zu trennen und darauf aufbauend unterschiedliche Herrschaftssysteme zu errichten.
Und bis heute nehmen sich Menschen, die glauben, im Besitze der „richtigen“ Erkenntnisse zu sein, das Recht heraus, andere Menschen mit den angeblich „falschen“ Ansichten zu unterdrücken, zu bekämpfen und im Zweifelsfalle auch zu töten.
Neuere Ergebnisse der Forschung aus den unterschiedlichsten Disziplinen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Phänomen der Selbstorganisation, scheinen allerdings darauf hinzuweisen, dass es diese einheitliche Wirklichkeit für alle nicht gibt, sondern dass jeder Mensch in seiner eigenen Wirklichkeit lebt, die sich von der Wirklichkeit anderer Menschen unterscheidet.
Dementsprechend lebt auch jedes einzelne Kind in seiner besonderen Wirklichkeit und legt – wie wir alle – Wert darauf, dass diese von den Menschen in seiner Umgebung anerkannt und akzeptiert wird.
Das aber tun wir keineswegs. Im Gegenteil. Wir bekämpfen sehr oft die Wirklichkeiten anderer Menschen, wenn sie mit der unsrigen nicht übereinstimmt. Wir wollen „recht“ haben und nicht „unrecht“. Erwachsene untereinander haben sich an diese Art von Kämpfen meist schon so gewöhnt, dass sie ihnen als eine selbstverständliche Form der Kommunikation erscheinen, aber für Kinder können sie sich als sehr zerstörerisch erweisen.
Leider informieren wir uns meistens nicht über die neuen Erkenntnisse der Forschung, z. B. der Hirnforschung. Wir haben oft eine Aversion gegen etwas Neues, weil es unsere gewohnte Welt durcheinanderbringen oder sich sogar als gefährlich erweisen könnte. (confirmation bias)
Eher versuchen wir, die kreativen Welten unserer Kinder in unserem Sinne zu verändern oder zu zerstören, wenn sie unserer Ansicht nach nicht mit der unsrigen zusammenpassen.
Es ist daher entscheidend, die Wirklichkeit einer anderen Person und insbesondere auch die eines Kindes zu akzeptieren, ohne einen Zweifel daran zu äußern. Erlebt man die eigene Wirklichkeit als davon abweichend, dann kann man sie als gleichberechtigt, wenn auch als anders, daneben stellen.
Es ist wichtig, in solchen Fällen darauf hinzuweisen, dass die abweichenden Wirklichkeiten anderer Menschen die eigene Wirklichkeit um weitere Möglichkeiten des Erlebens, Fühlens und Denkens reicher machen können.
Es ist ebenfalls außerordentlich bedeutsam, die Aufmerksamkeit von Kindern auf Unterschiede, auf Abweichendes und auf Differenzen zu lenken, da wir üblicherweise in unserer Kultur die Tendenz haben, unsere Aufmerksamkeit und damit auch die der Kinder auf Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zu richten. Damit kann wieder ein Gleichgewicht zwischen dem eher bevorzugten Fokus auf das Gleichartige oder das Ähnliche und einer wieder zu entwickelnden Faszination durch das Fremdartige hergestellt werden.
Wie oft wir die Wirklichkeiten anderer Menschen bestreiten, sieht man an den folgenden Formulierungen, die den meisten von uns bekannt sein dürften:
Das wir etwas unterschiedlich wahrnehmen oder erinnern als eine andere Person, ist ganz normal. Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Filmkamera, die Bild und Ton aufnimmt und speichert.
Das Problem entsteht dadurch, dass wir denken, nicht nur wir würden unsere Umwelt auf diese Weise wahrnehmen und erinnern, sondern auch alle anderen würden dasselbe wahrnehmen und erinnern können, weil die Wirklichkeit für alle dieselbe ist. Das aber ist ein Irrtum.
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III.
Unterstützt wird unsere Vorstellung von einer gemeinsamen und für alle gültigen Wirklichkeit durch die Bevorzugung von Ansichten, Meinungen, Sichtweisen und Positionen und der Haltung „Meine Position ist die richtige“.
In einer Welt, in der meistens in „Entweder – oder“ gedacht wird, bedeutet dies gleichzeitig, dass dann die Position der anderen Person falsch ist.
Viele Streits zwischen Menschen entstehen dadurch, dass sie unterschiedlicher Meinungen sind und das voneinander nicht akzeptieren wollen. Wir wollen aus guten Gründen lieber die Zustimmung haben als eine abweichende Ansicht zu akzeptieren.
Selbstverständlich kann es sein, dass ich durch die abweichende Sichtweise einer anderen Person irritiert bin und diese nicht einfach akzeptieren kann.
Dann kann ich dies aber als ein Problem betrachten und mir überlegen, welche Möglichkeiten es für Problemlösungen gibt.
Diese Möglichkeit aber kommt immer dann nicht mehr in Betracht, wenn man sehr viel Wert auf Ansichten und Meinungen legt.
Wir sind bisher meist nicht bereit, die bevorzugte Positionsorientierung durch eine Problemorientierung zu ergänzen.
Auch in Schulen und sonstigen Ausbildungsstätten wird eher gelernt, seine Ansichten mit Argumenten zu untermauern – und damit auch zu verfestigen – , als bei unterschiedlichen Positionen, die man als nicht vereinbar ansieht, ein Problem zu definieren, welches man vielleicht gemeinsam lösen könnte statt sich zu bekämpfen.
Es wundert mich nicht, dass sich Menschen nicht geachtet fühlen, wenn ihre Positionen nur bekämpft werden und sie kein Bemühen erkennen können, das durch die nicht zu vereinbarenden Positionen entstandene Problem gemeinsam zu lösen.
Durch die beobachtbare Bevorzugung von Positionen neigen Menschen leider eher dazu, sich zu bekämpfen als sich gemeinsam um Problemlösungen zu bemühen.
Es ist sowohl für Erwachsene als auch für Kinder entscheidend zu lernen, jeden Streit, bei dem es um die Frage geht, wer recht hat, zu vermeiden. Stattdessen ist es sinnvoll, sich aus der Positionsorientierung heraus zu bewegen und nach einem zugrunde liegenden, gemeinsam zu lösenden Problem zu suchen.
Ist dies nicht möglich, kann man auch neugierig nachfragen, was die Hintergründe und die zugrunde liegenden Interessen sind, die zu den unterschiedlichen Positionen gehören.
Es ist sinnvoll, solange nach Prioritäten und Kompromissen zu suchen, bis alle Beteiligten mit den Lösungen zufrieden sind.
Trifft der Erwachsene eine Entscheidung, ohne die Wünsche der Kinder zu berücksichtigen, ist es wieder von großer Bedeutung, das die Erwachsenen den Kindern gegenüber ihr ernstgemeintes Bedauern über die ihnen notwendig erscheinende Grenzüberschreitung äußern.
Deutlich wird die Bevorzugung von Ansichten, Meinungen oder allgemein gesagt „Positionen“ daran, dass man auf die Äußerung einer Meinung entweder mit einer Zustimmung oder einer anderen Meinung reagiert. Kaum jemand verweist auf ein dadurch entstehendes Problem hin. Es wird entweder nur widersprochen oder zugestimmt:
„Ich finde das gar nicht, die Eltern müssten zur Rechenschaft gezogen werden, die haben doch offensichtlich etwas falsch gemacht.“
„Zumindest die Reichen müssten höhere Steuern zahlen.“
In strukturell ähnlicher Weise laufen die Talkshows im Fernsehen ab. Sehr häufig sind es die Positionen, die als wichtig erachtet werden und um deren Richtigkeit oder Angemessenheit gerungen wird. Die inhärenten oder resultierenden Probleme werden sehr viel seltener angesprochen.
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IV.
Die Kampfbereitschaft in Bezug auf die verschiedenen Positionen wird vor allem dadurch unterstützt, dass wir in unserer Kultur – aber auch in anderen – überwiegend davon ausgehen, wir seien bei einer Veränderung unseres inneren Zustandes das Opfer von anderen geworden.
Wir denken, andere hätten uns geärgert, verletzt, verunsichert, unterdrückt und ähnliches oder aber auch versäumt, uns glücklich und zufrieden zu machen und uns Gefühle von Liebe und Geborgenheit zu vermitteln.
Denn das können – unserer Ansicht nach – die anderen meistens auch und wir nehmen es ihnen übel, wenn sie es nicht tun.
Wir interpretieren unser Erleben sehr häufig so, als seien wir ein Opfer in einer Täter – Opfer – Dynamik. Wir verhalten uns so, als seien wir nicht mehr verantwortlich für uns selbst und verzichten dabei auf die Bewusstheit unserer Autonomie.
Es ist daher unerlässlich, bereits mit Kindern zu üben, nicht passiv in der Opfer-Position zu verharren, sondern sich aktiv durch eigene Handlungen – z. B. durch die Äußerung von Wünschen oder deutlichen Handlungsanweisungen – wieder aus der Opfer-Position heraus zu bewegen.
Auch Kinder können bereits lernen, dass es keine notwendige Beziehung zwischen dem eigenen Verhalten und dem Verhalten einer anderen Person gibt, sondern dass ihr eigenes Verhalten unabhängig vom Verhalten ihres Gegenübers sein kann.
Kinder können ebenfalls lernen, dass sie die Verantwortung haben für ihre eigenen Gefühle, Gedanken, Handlungsimpulse, Handlungen und dafür, wie sie mit den Konsequenzen ihres eigenen Handelns umgehen.
Dabei ist es unerlässlich, dass die Erwachsenen ebenfalls diese Verantwortung für sich selbst bei sich belassen, und nicht die Kinder für Veränderungen ihrer psycho-somatischen Zustände verantwortlich machen.
Dass wir dieses sehr häufig tun, kann man an den folgenden Formulierungen erkennen, die uns meistens ziemlich geläufig sind:
In diesem Sinne versuchen wir häufig, anderen die Verantwortung für unsere eigenen Zustände zuzuschieben. Diese „anderen“ nehmen die Zuschreibungen allerdings nicht immer an, sondern wehren sich und beginnen einen Streit. Dann befinden sich die Beteiligten in der bereits erwähnten Täter-Opfer-Dynamik und schieben sich die Verantwortlichkeiten immer hin und her.
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V.
In dem Maße, in dem wir uns selbst als Opfer und andere Menschen als Täter empfinden, werden wir misstrauisch und feindselig. Wir unterstellen anderen Menschen eher negative Motive als positive und sind weniger und weniger bereit, die Wünsche anderer Menschen nach Anerkennung, Zuwendung und Wertschätzung zu erfüllen.
Wir konsumieren „das Leben“, statt es zu gestalten und so bringen wir es auch den Kindern bei. Wir versuchen – wenn auch meist unbewusst – , sie zu ergebnisorientierten Konsumenten von Wissen über das Leben zu machen, statt ihnen zu ermöglichen, Prozesse des Lebens zu erfahren und kreativ zu gestalten.
Wir bemühen uns leider auch mehr und mehr darum, von anderen Menschen emotional unabhängig zu sein, und sorgen so für Gleichgültigkeit und soziale Kälte zwischen uns und den Mitmenschen.
Gleichzeitig macht uns die Leugnung unserer sozialen Bedürfnisse besonders anfällig dafür, gesellschaftliche Erwartungen aller Art zu erfüllen, nur um dazuzugehören und akzeptiert zu werden.
Typische Formulierungen in diesem Zusammenhang sind die Folgenden:
Die Neugier, die Berührbarkeit und das Interesse an den vielfältigen Prozessen des Lebens bleiben dabei auf der Strecke.
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VI.
Unser Umgang mit Gefühlen ist ebenfalls seit Hunderten von Jahren kulturell geprägt. Fühlen und Denken wurden und werden immer noch als getrennte Prozesse betrachtet.
Dabei hat die etwas magische Vorstellung, andere Menschen würden unsere Emotionen in positiver oder negativer Weise beeinflussen können, einen entscheidenden Anteil an der sich immer wieder neu herstellenden Täter-Opfer-Dynamik.
In dieser Dynamik werden andere Menschen angeblich immer wieder zu Tätern, die uns ärgern, wütend machen oder verletzen usw. können, so dass wir zu ihren Opfern werden. Oder wir werden umgekehrt die Täter, die angeblich dieses und ähnliches anderen Menschen antun, so dass sie unsere Opfer werden.
Und so kann sich ein ständiger Wechsel zwischen einer Position als Opfer und einer Position als Täter vollziehen.
Aus neurophysiologischen Gründen sind solche Einflüsse bei selbstorganisierenden Systemen nicht möglich, diese sind operational geschlossen und nur offen für Materie und Energie. Demnach entstehen alle emotionalen und mentalen Veränderungen im eigenen Inneren und werden keineswegs von außen erzeugt.
Dazu kommt, dass die im eigenen Inneren entstehenden Gefühle unser schnelles Informationssystem bilden. Das bedeutet, dass Gefühle wichtige Botschaften für uns enthalten, die allerdings erst mit Hilfe unseres Denkens entschlüsselt werden müssen.
Es geht also keineswegs darum, Gefühle einfach nur auszudrücken, sondern zusätzlich auch die in ihnen enthaltenen Informationen zu nutzen.
So sind Unzufriedenheit, Ärger und Wut Gefühle, die auf das Vorhandensein von unerfüllten Wünschen verweisen. Die Gefühle lösen sich erst auf, wenn diese Wünsche bewusst geworden und ausgedrückt worden sind.
Gefühle von Verletztheit und Schmerz entstehen im eigenen Inneren, wenn bestimmte soziale Bedürfnisse, wie z. B. die existenziellen Wünsche, wahrgenommen zu werden, dazu zu gehören, eine Bedeutung und eine Wirkung zu haben, geachtet und wertgeschätzt zu werden, usw. nicht erfüllt werden.
Es ist nicht eine andere Person, die uns verletzt.
Der Schmerz entsteht in uns selbst, die andere Person jedoch erfüllt nur die für uns bedeutsamen Wünsche nicht. Für die Nichterfüllung dieser Bedürfnisse trägt sie auch die Verantwortung und muss sich mit den Konsequenzen dieser Verweigerung auseinandersetzen.
Wir lernen leider in unserer Kultur bisher nicht, die in den Gefühlen verborgenen Botschaften zu entschlüsseln, stattdessen agieren wir sie an unseren Mitmenschen auf oft destruktive Weise aus und vergiften durch die in diesem Zusammenhang entstehende Täter-Opfer-Dynamik die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Es ist wichtig, Kindern die möglichen Bedeutungen, die sich in den Gefühlen verbergen, beizubringen und mit ihnen zu üben, sowohl ihre Gefühle als auch die darin enthaltenen Informationen auszudrücken.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass alle an einer Interaktion beteiligten Personen – insbesondere die Erwachsenen – ihre Verantwortung für ihre eigenen Gefühle, Gedanken, Handlungsimpulse und Handlungen deutlich zum Ausdruck bringen und sich ebenfalls empathisch mit den Konsequenzen ihrer Handlungen auseinandersetzen.
Um in dieser Weise handeln zu können, braucht es viel Bewusstheit in Bezug auf die eigenen Gefühle und eine Suche nach den darin verborgenen Informationen. Beides erfordert angeleitete Übungen, auf die ich erst später in einem anderen Zusammenhang eingehen werde.
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VII.
Wir vermeiden es, neugierig zu sein auf das, was wir noch nicht wissen und kennen. Wir wollen keine Irritationen, sondern nur das, was wir schon kennen.
Statt das Unbekannte und uns noch Fremde faszinierend zu finden und als potenzielle Bereicherung zu begreifen, haben wir Angst davor und wollen nichts damit zu tun haben.
Es gibt leider sehr viele beschämende und erschreckende Beispiele gerade auch aus der jüngsten Zeit dafür, die man jeden Tag in den Zeitungen lesen und aus den Nachrichten erfahren kann.
Mit dieser Haltung begegnen wir auch unseren Kindern. Wir erklären ihnen die Welt, wir versuchen, sie ihnen begreiflich zu machen und dabei das Unbekannte auszuräumen.
Wir beantworten die Fragen der Kinder und signalisieren ihnen, dass die Antworten das Wichtigste sind, statt ihnen beizubringen, dass es die Fragen sind, die den Kontakt zu Welt herstellen. Wir bringen ihnen bei, ergebnisorientiert zu denken und zu handeln.
Die Prozesse, in denen sich das Leben in allen seinen Formen lebt, bleiben dabei auf der Strecke.
Ergebnisorientiertes Denken und Handeln und prozessorientiertes Denken und Handeln ergänzen sich wechselseitig, man kann im Grunde weder auf das eine noch auf das andere verzichten.
Aber in unserer ganzen Kultur und damit auch im Umgang und in der Ausbildung der Kinder wird die Ergebnisorientierung favorisiert, und das hat durchaus destruktive Folgen für alle Beteiligten.
Es ist wichtig, die in schon in der Grundschule vorherrschende Ergebnisorientierung um eine Prozessorientierung zu erweitern. Im Modus der Prozessorientierung ist die Aufmerksamkeit der jeweiligen Person auf das gerichtet, was noch nicht bekannt ist. Während eines prozessorientierten Vorgehens bewegt sich die Person von einem Unbestimmten zum nächsten Unbestimmten. Diese Art der Erforschung der Umwelt unterstützt die Entwicklung der eigenen Neugier und der eigenen Abenteuerlust.
Die Einübung, sich der Umwelt prozessorientiert zu nähern, ermöglicht gleichzeitig die Einübung einer kompetenzorientierte Bewusstheit der eigenen Prozesse. Die Aneignung verschiedener Denkmethoden, die Erarbeitung von Problemlösungsmöglichkeiten, die Entwicklung kreativer Ideen und die Planung von Aktivitäten unterschiedlichster Art erfordern ein prozessorientiertes Vorgehen. Dieses kann gleichzeitig durch entsprechende Wiederholungen eingeübt werden.
Prozessorientiertes Denken und Handeln ist für viele Menschen ungewohnt und braucht daher angeleitete Übungen, die man u. a. in meinem Buch "Verantwortlich handeln..." finden kann.
Ergebnisorientiertes Denken und Handeln unter anderem in der Form des Sammelns von Daten und Fakten ist in unserer Kultur so weit verbreitet, dass ich davon ausgehe, dass es jedem vertraut ist. Deshalb gehe ich hier nicht weiter darauf ein.
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VIII.
Die Ergebnisorientierung macht es notwendig, das jeweils Betrachtete oder Untersuchte möglichst so zu vereinfachen, dass es berechenbar und kontrollierbar erscheint.
Dabei gilt das Interesse den Ursachen und den Wirkungen von Prozessen und den jeweiligen Zusammenhängen zwischen Ursachen und Wirkungen.
Die Vorstellung, dass man die Wirkungen beeinflussen oder sogar kontrollieren könnte, wenn man die Ursachen kennt, ist bis heute weit verbreitet, funktioniert aber meistens nur bei mechanischen Systemen, wie z. B. Autos.
Selbstorganisierende Systeme, wie es Lebewesen sind, entziehen sich aufgrund ihrer Komplexität solchen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und sind nicht gezielt beeinflussbar und damit auch nicht kontrollierbar.
Um es ganz deutlich zu sagen: Menschen, Erwachsene ebenso wie Kinder sind – als selbstorganisierende Systeme – nicht kontrollierbar. Lesen Sie dazu auch: BLOGARTIKEL 14: SELBSTORGANISATION.
Aber dies wird nur sehr ungerne akzeptiert. Wir möchten die Vorstellung, wir hätten die Macht und die Kontrolle über andere Lebewesen oder müssten sie haben, nicht aufgeben.
Leider basiert unsere gesamte gesellschaftliche Organisation mit allen ihren Institutionen auf der Möglichkeit und der vermeintlichen Effektivität von Kontrollen.
Und in allen gesellschaftlichen Bereichen nehmen die Versuche, alles immer genauer zu kontrollieren, trotz einiger Versuche, die Bürokratisierung etwas zu reduzieren, immer noch zu.
Da eine Gesellschaft ebenfalls ein sich selbstorganisierendes System ist, könnte man diesen Prozess vielleicht auch verstehen als eine Gegenwehr gegen die zunehmende Bewusstheit, dass lebende Systeme eben gerade nicht zu kontrollieren sind.
Die neuen Forschungsergebnisse, durch die deutlich gezeigt wird, dass solche Kontrollen wegen der großen Komplexität und Vernetztheit selbstorganisierender Systeme sich kontraproduktiv auswirken, weil sie nichts bringen, werden immer noch nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt.
Immer noch ist der Glaube daran, dass wir die verschiedensten Prozesse in und zwischen Lebewesen kontrollieren könnten, so weit verbreitet, dass viele gesellschaftliche, wissenschaftliche, politische Entscheidungen usw. – gerade auch aus der letzten Zeit – auf dieser Illusion beruhen. Das hat leider häufig weitreichende fatale Folgen.
Es ist wichtig, dass Kinder ebenso wie Erwachsene lernen, dass sie keine Kontrolle über andere Lebewesen oder über lebendige Prozesse haben.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass Kinder ebenso wie Erwachsene aktiv versuchen, etwas dazu zu unternehmen, dass sich ihre Wünsche erfüllen. Dabei ist es meist hilfreich, sich selbst und die eigene Umwelt so gut es geht zu kontrollieren und sich auch die dazu notwendigen Kompetenzen anzueignen.
Es ist ebenso von großer Bedeutung, den Kindern Achtung und Respekt vor der Komplexität und Liebe zu der Schönheit der Prozesse des Lebens nahezubringen.
Die meisten Menschen haben große Schwierigkeiten, auf die Illusion von Kontrolle und Macht zu verzichten. Wir benötigen das Gefühl, möglichst weitgehende Kontrolle über uns selbst und unsere Umwelt zu haben, weil es uns Gefühle von Sicherheit und die Hoffnung auf Überleben vermitteln.
Es ist schwer, die Kopplung zwischen der Möglichkeit von Kontrolle und dem eigenen Überleben aufzulösen. Es gibt keine Sicherheit für die Menschen vor den Unbillen des Lebens, aber es gibt menschliche Intelligenz, Kompetenz und Kreativität, damit irgendwie fertig zu werden.
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IX.
Ein selbstorganisierendes System versucht, sich unter allen Umständen am Leben zu erhalten.
Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichsten selbstorganisierenden Systemen zeigen sehr deutlich, dass diese erhebliche Widerstände gegen Bedrohungen entwickeln und kreative Anpassungsprozesse in Gang setzen können, wenn sie sich gefährdet fühlen oder bekämpft werden.
Die Tatsache, dass wir seit Jahrhunderten die Autonomie von Schwächeren, Kleineren und von denen, die wir als andersartig wahrnehmen, bekämpfen, hat möglicherweise einen Prozess in Gang gesetzt, der zu den Besonderheiten selbstorganisierender Systeme gehört.
Sie wehren sich – wie gesagt – gegen das, was sie angreift und bekämpft. Die Schwächeren, Kleineren, die Kinder und Jugendlichen und noch eine Reihe anderer Menschen aus anderen Kulturen, denen wir ähnlich überheblich begegnet sind, beginnen sich zu wehren.
Sie verweigern auf unterschiedliche und teilweise sehr kreative Weise den Gehorsam und lassen sich nicht mehr so einfach unterwerfen. Einige werden rebellisch oder aggressiv oder sogar gewalttätig.
Sicher ist es dabei wichtig, jeden einzelnen Menschen und sein Verhalten gesondert zu betrachten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Hier will ich nur versuchen, eine mögliche Tendenz deutlich zu machen:
Danach schließt sich in gewisser Weise hier der Kreis zu der ersten kulturellen Überzeugung, wir hätten das Recht, aufgrund unseres langgehegten Glaubens an unsere Überlegenheit, anderen unseren Willen aufzuzwingen und Gehorsam von ihnen zu erwarten. Es scheint so zu sein, dass die Gegenwehr wächst.
Widerstand gegenüber elterlichen Erwartungen, Rebellion gegenüber gesellschaftlichen Anpassungserwartungen, Aggressionen, Gewalttaten und Grausamkeiten und der Zweifel gegenüber kulturellen Werten und Normen scheinen zuzunehmen.
Vielleicht wird auch nur in zunehmender Weise darüber berichtet, so dass die Angst und die Sorge vor der Zunahme von solchen Prozessen steigen.
Es wäre nun ein großer Fehler, diese Entwicklung überwiegend durch eine weitere Verstärkung von Kontrollen zu bekämpfen.
Stattdessen scheint es mir wichtig zu sein, auf die sich als schädlich erwiesenen kulturellen Überzeugungen zu verzichten und die durch diesen Prozess deutlich werdenden Probleme auf eine konstruktive Weise aufzugreifen.
Diese Maßnahmen sollten Elternschulung, Fortbildungen von ErzieherInnen und SozialpädagogInnen, LehrerInnen und eine Veränderung der schulischen und universitären Angebote umfassen.
Letztere sollten sehr viel weniger durch die Aneignung von Wissen bestimmt und ergebnisorientiert sein, sondern eher prozessorientiert die Entwicklung und Erarbeitung von Kompetenzen zur Lösung von Problemen aller Art enthalten.
©Autorenrechte Regine Reichwein
7. ARTIKEL - WIR OPFERN UNSERE KINDER
Knolle (Sonntag, 31 Mai 2015 18:48)
Eine "kopernikanische Wende" hin zu Berührbarkeit und Kompetenzentwicklung erscheint mir infinitesimal möglich: durch Vorbilder.