11. ARTIKEL: KONTROLLVORSTELLUNGEN


von Regine Reichwein

 

 

Jedes Lebewesen möchte so viel Kontrolle wie möglich über sich selbst und sein Umfeld haben. Möglichkeiten der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände zu haben, scheint das eigene Überleben zu sichern. Insofern sind Versuche, sich Kontrolle über alles Mögliche zu verschaffen, außerordentlich sinnvoll. Aber es sind immer nur Versuche.

 

 

Manche gelingen und manche nicht. Bei mechanischen Systemen, wie z. B. Maschinen aller Art, sind die Versuche meistens erfolgreich, weil es eindeutige Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen gibt bzw. das Kausalprinzip gilt.

Und wegen dieses Kausalprinzips glauben wir häufig, dass wir die Wirkung von etwas Bestimmten beeinflussen können, wenn wir die Ursache dafür kennen.

Das ist in vielen Fällen auch der Fall, aber eben nicht in allen.

 

 

Wenn z. B. das Auto nicht anspringt und wenn wir wissen, dass die Ursache dafür die leere Batterie ist, dann können wir die Batterie aufladen und das Auto springt wieder an. Wenn wir erkennen, dass die Ursache ein leerer Tank ist, dann können wir Benzin nachfüllen und das Auto wird wieder fahren.

Sehr viele Alltagsgegenstände sind mechanische Gebilde und es gelten für ihr Funktionieren eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Wir können sie reparieren, wenn uns die Ursachen für ihr Versagen bekannt sind.

 

Die Kontrollmöglichkeiten über die eindrucksvollen technischen Geräte, über die wir heute verfügen, um unser Leben zu erleichtern und um in den kleinsten und den größten Bereichen dessen, was existiert, zu forschen, haben auch einen entscheidenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Handeln und unsere Erwartungshaltungen.

Bis heute fragen wir nach den Gründen, auf denen die Prozesse in uns und um uns herum beruhen und nehmen an, dass die Kenntnis dieser Gründe uns auch ermöglichen wird, die resultierenden Wirkungen gezielt zu beeinflussen.

Diese Annahme gilt leider nur für mechanische Systeme und solche Systeme, die linearen Gesetzen gehorchen bzw. deren Prozesse sich in der Nähe des thermodynamischen Gleichgewichts befinden, wie z. B. Wärme­kraft­maschi­nen.

 

Aber wir haben die Angewohnheit entwickelt, diese Art des Denkens und Schlussfolgerns auf alle Systeme und Prozesse, mit denen wir es zu tun haben, zu übertragen.

Wir fragen uns selbst oder unser Gegenüber:

 

  • Warum fühlst du dich schlecht?
  • Warum bist du so traurig?
  • Warum hast du das vergessen?
  • Warum hast du nicht angerufen?
  • Warum bist du da hingegangen?
  • Warum hast du das getan? Usw.

 

Wahrscheinlich ist uns nicht einmal bewusst, welche Art von Antwort wir erwarten und was wir mit den Antworten anfangen würden. Trotzdem stellen wir immer wieder solche und ähnliche Fragen und hoffen, dass irgendeine für uns günstige Erklärung dabei herauskommt.

Wir hoffen, durch die Kenntnis der Ursachen die Wirkungen unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht besinnt sich die Person, die sich schlecht fühlt oder die traurig ist, dass doch alles nicht so schlimm ist.

Vielleicht denkt die vergessliche Person über die Frage nach und bemüht sich, beim nächsten Mal nichts mehr zu vergessen, anders zu handeln usw.

 

 

Aber als Warum-Fragen verkleidete Vorwürfe ändern nicht viel und die vielleicht angeführten Gründe erklären auch nichts, denn wir Lebewesen sind viel zu komplex und so mit unseren jeweiligen Umwelten verwoben, als dass wir stimmige Erklärungen für unser Verhalten finden könnten. Die Gründe können sich wegen der radikalen Wechselwirkungen von allem mit allem bis in Unendliche vervielfachen, weil man immer weiter fragen kann:

 

  • Warum ist man zu spät gekommen?
    Weil der Bus eine halbe Stunde später kam.
  • Warum ist der Bus später gekommen?
    Weil der reguläre Bus einen Unfall hatte.
  • Warum hatte der Bus einen Unfall?
    Weil ein anderer Autofahrer ihm die Vorfahrt genommen hat.
  • Warum hat der Autofahrer dem Bus die Vorfahrt genommen?

    Weil er unaufmerksam und wütend war.

  • Warum war er unaufmerksam und wütend?
    Weil er Streit mit seiner Frau hatte.
  • Warum hat er sich mit seiner Frau gestritten? ...usw.

 

Warum-Fragen sind nach wie vor sehr beliebt, auch in der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings spricht es sich inzwischen mehr und mehr herum, dass es auch in den Wissenschaften keine Antworten auf Warum-Fragen gibt, sondern nur Antworten auf Wie-Fragen, mit denen versucht wird zu klären, wie etwas mit etwas anderem zusammenhängt.

 

 

Es geht in den entsprechenden Antworten immer nur um die Darstellung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, auch wenn es sprachlich anders – nämlich als ein Prozess zwischen Ursachen und Wirkungen – ausgedrückt wird.

Menschen favorisieren all das, wodurch sie Erklärungen für die Ereignisse in ihrer Welt und Kontrollmöglichkeiten in Bezug auf diese Ereignisse erhalten.

Es gibt wahrscheinlich in unserer linken Gehirnhälfte einen Teil, der von Hirnforschern das Interpretier-Modul genannt wird und dieses versorgt uns mit Erklärungen für alles Mögliche.

 

  • Warum habe ich heute solche Kopfschmerzen?

     

    - weil ich gestern zu viel Alkohol getrunken habe, oder

    - weil ich gestern diesen furchtbaren Streit mit meiner Freundin hatte,     

    - weil ich mir Sorgen wegen des Geldes mache, oder

    - weil mir alles zu viel wird usw.

 

Jede Erklärung, die wir selbst produzieren oder auch von anderen hören und für akzeptabel und einleuchtend haltend, reduziert für uns die Unbestimmtheit und Unsicherheit, die uns tagtäglich umgibt und das finden wir beruhigend.

Und wir finden es auch sehr beruhigend zu glauben, dass wir die Ereignisse in unserem Leben beeinflussen oder sogar steuern können. Ein Denken in Ursachen und Wirkungen unterstützt diese Wunschvorstellung.



Nun haben jedoch neue Forschungsergebnisse gezeigt, dass es so etwas wie selbstorganisierende Systeme gibt – zu denen auch alle Lebewesen gehören – , die zu komplex sind, als dass man herausfinden könnte, was die jeweilige Ursache für eine bestimmte Wirkung ist.
Selbstorganisierende Systeme sind offen für Materie und Energie, aber für alle anderen Prozesse geschlossen. Das bedeutet z. B., es kommen zwar Schallwellen bei einer Person an, aber die in den Schallwellen transportierten Informationen werden erst im Inneren der Person selbst hergestellt.

Wir können nur das hören, was wir hören und das ist nicht unbedingt das, was gesagt wurde, und wir sehen auch nur das, was wir sehen und nicht unbedingt das, was für andere zu sehen ist.

In diesem Sinne stellt jedes selbstorganisierende System sich selbst und seine eigene Wirklichkeit in Wechselwirkung mit der jeweiligen Umwelt ununterbrochen selber her. Gezielte Eingriffe von außen sind nicht möglich, selbstorganisierende Systeme können daher nicht gezielt von außen kontrolliert werden.

Anders ausgedrückt: Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, alle seine Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse entstehen ausschließlich im Inneren eines Menschen und können nicht von außen gezielt beeinflusst, geschweige denn gezielt verändert werden.

Mehr dazu können Sie auch in meinem Buch "VERANTWORTLICH HANDELN" – das Phä­no­men der radikalen Wechselwirkung ...  nachlesen.


Aber das wird von vielen Menschen abgelehnt. Wir glauben, ohne Kontrollmöglichkeiten wird die Welt zu bedrohlich für uns und wir wollen nicht auf die Vorstellung verzichten, wir könnten unsere Mitmenschen gezielt manipulieren und diese könnten ebenfalls unsere Gefühle, Gedanken und Wünsche beeinflussen.

Denn dann haben wir stets die Möglichkeit, Verantwortung und Schuld für unsere eigenen Prozesse an andere zu delegieren, in dem wir behaupten, die anderen hätten uns provoziert, unter Druck gesetzt und ähnliches.

Aber wenn wir uns selber als selbstorganisierende Systeme begreifen, dann entfällt diese Möglichkeit.

 


Unter der Annahme, wir seien selbstorganisierende Systeme, sind wir selbst verantwortlich für unsere Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse und auch dafür, wie wir mit den Folgen unserer Handlungen umgehen.

Das bedeutet, dass wir – als selbstorganisierende Systeme – keine Kontrolle in Bezug auf unsere Mitmenschen oder andere selbstorganisierende Systeme haben. Auch die Kontrolle über uns selbst ist ziemlich eingeschränkt.

 

Selbstverständlich können wir weiterhin versuchen, soweit es irgendwie geht, Kontrolle über unsere Umwelt und damit auch andere Menschen auszuüben, aber es sind stets nur Versuche und ob sie gelingen, entscheidet immer auch das Gegenüber.

 

Leider sind nun viele Menschen mit Hilfe von Drohungen und Strafen aller Art erzogen worden und haben große Defizite an emotionaler Zuwendung. Dadurch werden sie leicht ein Opfer manipulativer Versuche. Denn die Hoffnung, dass sie endlich das bekommen, was sie sich schon so lange vergeblich wünschen, oder die Angst vor Strafe, vor Schmerz und Gewalt, vor dem Entzug von Kontakt, Anerkennung oder Zuwendung kann Menschen dazu bringen, etwas zu glauben, zu denken oder zu tun, was sie im Grunde nicht wollen.

Insofern haben viele Menschen den Eindruck, Manipulation einer anderen Person ohne deren bewusste oder unbewusste Zustimmung sei möglich, aber die operationale Geschlossenheit selbstorganisierender Systeme schließen solche gezielten Einwirkungen auf interne Prozesse von anderen aus.

Um es noch einmal zu wiederholen:

Es ist nicht das Problem, möglichst viel Kontrolle haben zu wollen, sondern zu glauben, wir hätten sie auch.

 

Aber selbstorganisierende Systeme entziehen sich jeder Kontrolle und obwohl es eine Menge Beispiele dafür gibt, dass es so ist, lehnen viele Menschen das Konzept ab und wählen lieber die bekannten deterministischen Konstrukte für Erklärungszusammenhänge, die sie gewohnt sind. Diese eher reduktionistischen Ansätze versprechen die gewünschten Kontrollmöglichkeiten und damit auch vermeintliche Macht.

Ein theoretisches Konstrukt, wie das Modell der Selbstorganisation, in dem unter anderem Unbestimmtheit in Bezug auf zukünftige Entwicklungen, fehlende Berechenbarkeit und fehlende Kontrolle eine große Rolle spielen, hat bisher keine sehr großen Chancen, zu einer Alltagstheorie zu werden, obwohl mit ihr große persönliche Vorteile verbunden sind.

Aber immerhin sagt der Hirnforscher Gerald Hüther in einem Interview:

Wenn wir wegkommen vom Determinismus, bieten sich völlig neue Perspektiven. Der zentrale Begriff für das 21. Jahrhundert heißt Selbstorganisation.

(aus PSYCHOLOGIE HEUTE, „Die Einzelkämpferphase ist vorbei“, 2015 / Heft 6)

 

Und vielleicht ändert sich manches doch schneller, als ich bisher denke und mir wünsche. Denn ein persönlicher Verzicht auf Illusionen von wechselseitiger Macht und Kontrolle ermöglicht auch große persönliche Freiheit.

 

 

 ©Autorenrechte Regine Reichwein

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Kommentare: 1
  • #1

    Almendra (Mittwoch, 29 Juli 2015 22:26)

    Sehr anregender Text. Die kulturelle Prägung ist so stark, dass ich nicht weiß, wie ich das wirklich verinnerlichen kann. Die vorgegaukelte Sicherheit ist einfach zu nett als die Idee einer vagen Unbestimmheit, in der man lediglich auf die beste Entwicklung hoffen kann. Wenn das Vertrauen in die Prozesse fehlt, fällt es besonders schwer den Dingen spielerisch zu begegnen. Kann man Vertrauen lernen und die Kontrollwünsche dadurch loslassen?