von Regine Reichwein

 

 

Viele Illusionen - die unsere Denk- und Handlungs­muster bestim­men – er­leich­tern unser Leben, aber es gibt unter ihnen auch eine ganze Reihe, die seit langer Zeit von einer Ge­ne­ra­tion an die näch­ste wei­ter­ge­ge­ben wer­den und die sich sehr be­last­end auf uns und unser Zu­sam­men­leben mit ande­ren aus­wirken. Und manch­mal ist es sogar ein und die­selbe Illu­sion, die sich in bestimm­ten Situ­a­tio­nen als hilf­reich, in ande­ren je­doch als sehr be­lastend er­weist.

 

 

Eine dieser Illusionen ist die Vorstellung, wir könnten andere Menschen gezielt beeinflussen, oder Prozesse in sozialen, ökologischen, ökonomischen, meteorologischen oder anderen selbstorganisierenden Systemen kontrollieren.

(siehe dazu auch: BLOGARTIKEL 14: SELBSTORGANISATION.)

 

Beispiele dafür sind die großenteils vergeblichen Versuche, die Flüchtlingsströme durch unterschiedliche kontrollierende Maßnahmen zu begrenzen.

 

       Selbstorganisierende Systeme sind nicht kontrollierbar, man kann sie nur in Echtzeit beobachten. Sie sind nur durchlässig für Materie und Energie und für alle anderen Versuche  gezielter Einflussnahmen geschlossen. Aber solange wir an der Illusion von Kontrolle und der vermeintlich damit einhergehenden Macht festhalten, werden viele Probleme unlösbar bleiben und Lösungsversuche eher zu eskalierenden Prozessen führen.

 

 

Beispiele aus dem täglichen Leben sind häufig beobachtbare kommunikative Prozesse. Dabei wird deutlich, dass meisten Menschen daran glauben, andere Menschen könnten sie ärgern, nerven, verletzen, in die Verzweiflung treiben, verrückt oder glücklich machen. Sie wollen nicht auf die Vorstellung verzichten, dass sie in diesem Sinne immer wieder das Opfer anderer Menschen werden.

 

Sie glauben dann allerdings ebenfalls meistens daran, dass auch sie andere Menschen ärgern, verunsichern oder zu etwas zwingen können und gehen auf unterschiedliche Weise damit um. Einige versuchen sich zu beherrschen und sich selbst zu kontrollieren, um andere Menschen nicht zu ärgern oder zu belasten usw., andere benutzen diese Illusion von Macht und Kontrolle, um sich den Erfolg ihrer Manipulationsversuche selbst zuzuschreiben.

 

Das Ergebnis ist in jedem Falle eine Dynamik von hin und her wechselnden vermeintlichen Tätern und den jeweils zugehörigen Opfern, die sich psychisch und physisch als eine Belastung für alle Beteiligten auswirkt.

Sich von dieser Illusion zu befreien ist schwer, aber möglich. Es reicht, sich bewusst zu halten, dass jedes Gefühl, jeder Gedanke und jeder Handlungsimpuls im Inneren eines jeden einzelnen Menschen entsteht und aus neurophysiologischen Gründen nicht gezielt im Inneren eines anderen hervorgerufen werden kann.

 

 

Wir haben zwar Wünsche aneinander und die Erfüllung oder die Nichterfüllung von Wünschen, die wir an andere Menschen und an unsere Umwelt haben, bewirken Veränderungen in unserem eigenen selbstorganisierenden System.

(siehe dazu auch: BLOGARTIKEL 18: WÜNSCHE - GRUNDLAGE VON VERÄNDERUNG)

 

Meistens werden wir unzufrieden, ärgerlich, wütend, traurig, oder auch bitter oder sogar verzweifelt, wenn uns bedeutsame Wünsche nicht erfüllt werden, oder fühlen uns verletzt, nur es sind nicht die anderen Menschen, die diese Veränderungen in uns hervorrufen. Sie entsprechen der Art, wie wir mit der Nichterfüllung von Wünschen umgehen.

Insofern ist die Frage, wie wir uns fühlen und was wir tun, wenn uns unsere Wünsche nicht erfüllt werden, von entscheidender Bedeutung für unser Befinden.

 

Es ist wichtig zu lernen, anderen Menschen so viel Autonomie zuzugestehen, dass sie selbst darüber entscheiden, ob sie uns unsere Wünsche erfüllen wollen oder nicht.

Und es ist bedeutsam, zu akzeptieren, dass diese Entscheidung im Inneren des Systems der anderen Person entsteht und mit uns selbst nichts zu tun hat.

Alle Lebewesen sind selbstorganisierende Systeme. Es ist nur eine kulturhistorisch gewachsene Illusion, dass es die Möglichkeit gäbe, Macht und Kontrolle über solche Systeme auszuüben.

Selbstorganisierende Systeme entziehen sich jeder Kontrolle.

Die Akzeptanz dieser Eigenschaft erleichtert es, diese Illusion aufzugeben.

Insofern drückt jedes Lebewesen stets nur sich selbst zusammen mit seinen Intentionen aus.

 

    Wenn man nun alle Lebensäußerungen eines anderen Menschen als seinen Selbstausdruck ansieht und nicht auf sich bezieht, wird man zwar nach wie vor unter fehlenden Wunscherfüllungen auf die eine oder andere Weise „leiden“, aber sich nicht mehr als „Opfer“ der anderen fühlen und sich damit auch der Täter-Opfer-Dynamik entziehen können.

 

Die Auseinandersetzung mit selbstorganisierenden Systemen und den zugehörigen Notwendigkeiten erfordert – wie bereits erwähnt – den Verzicht auf die täglich und allüberall unterstützte Vorstellung, man könne gezielt in die inneren Prozesse anderer Menschen eingreifen oder von diesen manipuliert werden, ohne dass man dieses will.

 

„Ich kann es nicht glauben, dass ich nichts dazu tun kann, dass mich ein anderer Mensch liebt“, sagte mir eine Frau in einer Diskussion.

 

Und so geht es vielen Menschen. Wir wollen – auch wenn wir viel Freiheit für unser persönliches Leben gewinnen könnten – meistens auf diese Kontroll- und Machtillusion nicht verzichten. Weder in persönlichen noch in gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Bereichen.

 

Aber es lohnt sich, sukzessive die eigenen Kompetenzen in dieser und in anderer Hinsicht zu vergrößern. Näheres dazu findet sich in meinen Veröffentlichungen und auf meiner Website www.reginereichwein.de.